«Sich entscheiden müssen» – zum Pflegealltag mit COVID-19-Patientinnen und -Patienten
Spätestens seit März 2020 steht die Intensivpflege in der Öffentlichkeit. Erst durch die Kompetenz und Empathie der Pflegefachpersonen erhalten Orte wie die «Rote Zone» ein Gesicht. Welche Erfahrungen machen die Mitarbeitenden auf der Intensivstation des Spitals Muri und was tun die diplomierten Pflegerinnen und Pfleger, um in fordernden Zeiten selber gesund zu bleiben?
«Mach dich auf grosse Herausforderungen und eine schwierige Arbeitssituation gefasst», teilte man Jacqueline Kurzbein, pflegerische Leitung Intensivpflege, im Spital Muri anfangs März 2020 mit. Mit den aufflackernden Nachrichten und Bildern aus Bergamo, dann mit aus dem Tessin kursierenden Meldungen zum neuen Erreger, verbreiteten sich ungewohnte Sorgen im Herzen der Intensivstation.
Weil auch im Kanton Aargau alle Spitäler geplante Operationen wegen der sich anbahnenden Pandemie verschieben mussten, fanden sich Jacqueline Kurzbein und ihr Team von einem Tag auf den anderen in einer neuen Dimension wieder. «Bisher hatten wir noch nie COVID-Patientinnen und -Patienten betreut. Kaum hatten wir die Intensivstation für die Aufnahme von COVID-Patienten vorbereitet, mussten wir schon jemanden nichtinvasiv beatmen.»
Der Alltag auf der Intensivstation veränderte sich rapide. Um die COVID-Fälle, die einen kritischen Krankheitsverlauf zeigten, unter Einhaltung der Hygienestandards zu behandeln, unterteilte man die Station in eine «Grüne Zone» und «Rote Zone». Neue strengere Pflegerichtlinien regierten den ungewohnten Alltag auf der Intensivstation. Kurzbein musste dafür typische Weisungen – darunter die Betreuung, Lagerung, Ernährung, Ableitung der Luft, schliesslich auch penible Arbeitsschutzmassnahmen – überarbeiten.
Allmählich gab es sowohl auf der COVID-Station 3.3 wie auf der Interdisziplinären Intensivstation (IPS) von der Pandemie betroffene Menschen zu betreuen. Mit viel Fachwissen, viel Empathie und neu gemachten Erfahrungen begleiteten die Expertinnen und Experten auf der IPS Schwererkrankte und ihre Angehörigen.
Erfahrungen sammeln
Per se sind sich die Pflegefachpersonen vieles gewohnt. Als es dann jedoch hiess, man müsse mit dem Schlimmsten rechnen, wurden die sonst sonnigen Gemüter von Kurzbeins Kolleginnen und Kollegen düsterer. «Wir waren darauf vorbereitet, dass wir viele Patientinnen und Patienten übernehmen und behandeln müssen, doch vor allem das wochenlange Warten machte mürbe», beschreibt die diplomierte Pflegefachfrau Phasen der Pandemie auf der IPS.
In der ersten Welle sei auf der Intensivstation alles sehr überschaubar, wenn nicht beunruhigend still gewesen, sagt sie. Die COVID-Patientinnen und -Patienten konnte man leicht an einer Hand abzählen. Erst in der aufsteigenden zweiten Welle hatten die Intensivpflegerinnen und -pfleger 12-Stunden-Einsätze. «Diese Extremphasen haben alles Bisherige über den Haufen geworfen», führt Jacqueline Kurzbein weiter aus.
«Aus der ersten Welle entliessen wir Ende Juni unseren letzten COVID-Patientinnen und -Patienten, dann hatten wir quasi Normalbetrieb. Ab Oktober 2020 und vor allem im Winter 2020/21 begegneten uns dann viel schwerere Fälle – hinzu kamen noch die saisonal bedingten personellen Ausfälle.»
Doch auch hinter den Spitalkulissen war das medizinische Personal gefordert. Jacqueline Kurzbein erklärt die aussergewöhnliche Situation seit Herbst 2020 so:
«Während des ersten Lockdowns waren unsere Familienangehörigen zuhause. Sie konnten uns vor und nach den Schichten unterstützen. Im Herbst, nach den Lockerungen, war es schwieriger für unser Personal sich zu organisieren. Wir hatten mehr COVID-Notfälle und führten wieder unaufschiebbare Operationen durch. Die Schichtpläne mussten abermals umgeschrieben werden. Hingegen wurden unsere IPS-Pflegenden, respektive ihre Familienanghörigen selber durch unvorhersehbare Situationen betroffen.»
Rückblickend sei die Krise milder als befürchtet ausgefallen, «behält man die Bilder von Bergamo und Amerika (oder ein anders Land, wo es viele Tote gab) im Hinterkopf», meint die leitende Pflegefachfrau, die immer wieder die Solidarität und den familiären Teamgeist ihres medizinischen Fachpersonals lobt.
In normalen Zeiten würde eine Pflegende die Kojen der Intensivstation betreuen. In der zweiten Welle brauchte es mehr zu koordinierende Sondereinsätze. Schliesslich auch deswegen, weil die IPS-Pflegefachpersonen in Schutzanzügen (in der «Roten Zone») auf zeitnahe Hilfe von aussen (in der «Grünen Zone») angewiesen waren. So rüsteten Teamkolleginnen und Teamkollegen beispielsweise Spritzen, Verbandsmaterial, Medikamente, aber auch mal eine Decke.
Trotz turbulenteren Zeiten ab Spätsommer 2020 konnten Kurzbein und ihre 26 Kolleginnen und Kollegen Pflegeprozesse optimieren.
Gebührende Anteilnahme
Bis zu vier COVID-Fälle werden im Spital Muri in zwei IPS-Kojen behandelt. Bei kritischeren Fällen, das heisst bei nicht gut therapierbaren Patientinnen oder Patienten, sind die diplomierten Pflegefachpersonen in Muri direkt in die Aufnahme involviert.
Behandlungsmassnahmen unter hohen Schutzmassnahmen sind das eine, doch wie begegnet man Patientinnen oder Patienten unter Atemnot und erschwerten Umständen? Wie rüsten sich Kurzbein und ihr Team gegen schwierige oder extreme Situationen? «Zum einen treffen wir immer gemeinsam Entscheidungen, zum anderen ist es meine Rolle, genügend Pflegefachpersonen für die Schichten aufzubieten.»
Weit wichtiger sei es, dass man sich im Spitalalltag in jeder erdenklichen Situation unterstützt, sagt Jacqueline Kurzbein: «Das Verständnis und Vertrauen muss da sein, um rund um die Uhr die höchste Pflegequalität anstreben zu können», sagt die diplomierte Pflegefachfrau.
Wenn man Fachwissen umsetzten möchte, brauche es also einerseits Schulungen, Fachdiskussionen innerhalb des Personals, anderseits auch direkte Abklärungen am Bett, um Lösungswege zu finden. So konnte man zum Beispiel im Verlaufe des Jahres bessere Erfahrungen machen mit Beatmungsgeräten, denn anfänglich hatte man unterschiedliche Modelle auf der IPS. Ebenso beobachten die Intensivpflegenden ihre Patientin oder ihren Patienten sehr genau.
So konnte man auch bessere Konzepte zur Betreuung von COVID-Patientinnen und -Patienten entwickeln. Dies erfolgte in Zusammenarbeit mit Dr. med. Cornelia Villiger, ärztliche Leitung der IPS, und mit weiteren in der Fachverantwortung stehenden Pflegefachkräften der Intensivstation. So werden im Spital Muri die COVID-Patienten nicht komplett auf die Bauchseite gelegt. «Wir positionieren sie mit Atmungsschwierigkeiten bei gut 135 Grad. Dies ermöglicht uns bessere Kontrollen. Viele Patientinnen und Patienten sprechen besser darauf an.»
Auf der interdisziplinären Intensivstation schreibt man nicht nur Sicherheit und Pflegequalität gross, auch für die Angehörigenbetreuung setzen sich Kurzbein und ihr Team stark ein. «Unsere Ärzte und die Pflege führen täglich ein Angehörigengespräch. Sollte eine Patientin oder ein Patient alleine auf der Station liegen und deren Partner oder dessen Partnerin sich in Quarantäne befinden, setzen wir alles daran einen Weg zu finden, damit die Patienten mit den Angehörigen sprechen können. Ist dies zum Beispiel aus der Verwandtschaft eine Schwiegertochter, gewähren wir – selbstverständlich im Schutzanzug – Zutritt in die IPS für gut 15 Minuten.
Viele COVID-Patientinnen und -Patienten können bereits nach wenigen Wochen von der Intensivstation in die COVID-Station 3.3 verlegt werden. «Gemeinsam mit den Angehörigen gestalten wir den Weg, der vor uns liegt und erinnern uns an Zeiten, in denen die Welt noch ein Stück weit in Ordnung war», umbeschreibt Jacqueline Kurzbein die bleibenden Momente, die sie im Pandemiejahr 2020 erlebte. «Retrospektiv», sagt sie, «hat COVID-19 unser aller Leben verändert. Wir haben jedoch zumindest auf der IPS einen guten Weg gefunden, wie man damit sorgfältig umgeht.»
Interview mit
Maja Zrotz, Karsten Meier, Nicole Wyss,
Ljuljete Mustafi und Tina Balaban
«Permanente Atemnot»: Pflegerinnen und Pfleger berichten
Nicht nur die künstliche Beatmung und die intensivmedizinischen Eingriffe bei COVID-19-Patientinnen und -Patienten, auch die zwischenmenschlichen Begegnungen auf der IPS beschäftigten die Pflegefachleute im Spital Muri.
Viren als infektiöse organische Strukturen haben im Jahr 2020 exemplarisch die Verletzlichkeit des menschlichen Organismus sowie der Menschheit als solche eindrücklich gezeigt, wenngleich Naturwissenschafter und Philosophen wie René Descartes (1596 – 1650) den Menschen immer wieder als «Krone der Schöpfung» bezeichnen.
Die Strategie zur Pandemie-Eindämmung ist im Spital Muri seit März 2020 operationalisiert, wobei etwa eine gut frequentierte Coronavirus-Abklärung eingerichtet wurde. Kritisch kranke Patientinnen und Patienten werden in Muri auf der COVID-Station 3.3 und einer SGI zertifizierten Intensivstation mit 6 Pflegeplätzen – und zurzeit 3 Beatmungsplätzen – stets angemessen versorgt.
In Zeiten längerer Pandemiephasen ermöglichen die Intensiv-Pflegerinnen und -Pfleger Begegnungen zwischen COVID-Erkrankten und externen Angehörigen (siehe auch das Porträt «Sich entscheiden müssen» – zum Pflegealltag von COVID-19-Patientinnen und -Patienten oben). In Ausnahmesituationen kann es vorkommen, dass die Pflegenden die einzigen und letzten Bezugspersonen für teilweise über Wochen leidende Patienten darstellen.
Wie gut konnten die diplomierten Pflegefachpersonen NDS einzelne Pandemiephasen persönlich verarbeiten? – Stellvertretend für die Pflege im Spital Muri im «Pandemiejahr 2020» geben einige Pflegefachpersonen IPS aus dem Team von Jacqueline Kurzbein Einsichten:
Was war Ihr bleibendes Erlebnis?
Maja Zrotz: Ein älterer an COVID-19 erkrankter Mann kämpfte bereits seit Tagen unter der Beatmungsmaske gegen die Intubation. Er wusste, dass seine Überlebenschancen grösser sind, wenn er es schafft selber zu atmen als wenn er ins künstliche Koma gelegt werden muss. Seine Prognose war sehr schlecht. Der Moment der Entscheidung kam. Wir, das Behandlungsteam, konnten nicht mehr länger zuwarten und mussten den Patienten vor eine harte Konfrontierung stellen:
Entweder er würde gleich intubiert und hierdurch vielleicht in ein paar Tagen oder Wochen aus dem künstlichen Koma erwachen, oder weiter nur eine einfache Beatmungsmaske tragen und sterben. Hin und her gerissen, entschied sich der Patient schlussendlich für die permanente Beatmung, wünschte sich aber noch zehn Minuten Zeit für sich. Zehn Minuten, während denen er mich bat, ihm die erhaltenen SMS und Sprachnachrichten seiner Familie vorzulesen und abzuspielen.
Es fiel mir sichtlich schwer all die lieben Worte und Gedanken auszusprechen, welche nicht nur den Patienten, sondern auch mich berührten. Denn mir war klar, dass er wahrscheinlich nicht mehr aus dem Koma erwachen wird.
Karsten Meier: Die rapiden Verschlechterungen und auch Verbesserungen der COVID-19-Patientinnen und -Patienten.
Nicole Wyss: Mein schönstes Erlebnis war, als ich einen pflegerisch intensiven COVID-19-Patienten nach längerer Beatmungszeit und einigen Pflegetagen dekanülieren (Entfernung des Tracheostomas) konnte. Ich durfte mit dem Patienten den ersten Schluckversuch erfolgreich durchführen und ihm am nächsten Tag ein Joghurt anbieten. Der Patient freute sich sehr darüber, für ihn war dies das Grösste.
Ljuljete Mustafi: Ein älteres Ehepaar wurde mit COVID-19 in unser Spital eingewiesen. Der Ehemann lehnte von Anfang an die Intensivtherapie ab, nur noch seine Frau konnte Entscheidungen zu Pflegemassnahmen treffen. Es gelang uns, dank toller Zusammenarbeit zwischen den Stationen, die beiden noch ein paar Mal zusammenzubringen, bevor der Ehemann nur wenige Tage vor der Ehefrau verstarb.
Tina Balaban: Diverse Ängste, die sich entwickelt haben. Was kommt hier auf uns zu? Bekommen wir tatsächlich genügend Impfstoff? Wirkt dieser Impfstoff dann auch? Und die Sorge darum, ob wir irgendwann wieder dasselbe Leben führen können, wie wir dies davor taten.
Wie wichtig ist Teamarbeit auf der Station?
Maja Zrotz: Sie ist nicht nur wichtig, sondern unabdingbar. Kritisch kranke Menschen zeigen zeitlich meist einen sehr schmalen Handlungsspielraum. Wenn es schnell gehen muss, müssen sich jede und jeder ihrer oder seiner Rolle bewusst sein und die Handgriffe müssen sitzen. Zudem werden die Patienten 1:1 an ein Nachfolgeteam übergeben, welches die bereits geleisteten Massnahmen und Interventionen sorgfältig weiterführt und interdisziplinär evaluiert. Gegenspieler bringen hier nichts.
Tina Balaban: Teamarbeit ist sehr wichtig und funktioniert nur, wenn wir alle am gleichen Strang ziehen.
Während der ersten Welle waren Schwierigkeiten erkennbar; Abläufe waren anders, wir waren alle noch nicht eingespielt. Doch während der zweiten Welle hat sich gezeigt, dass wir alle Erfahrung aus dem Frühling mitgebracht haben.
Karsten Meier: Natürlich sehr wichtig, besonders wenn man im COVID-Bereich arbeitet und Materialien benötigt.
Nicole Wyss: Auf der interdisziplinären Intensivstation arbeiten wir im interprofessionellen Team zusammen – was sich als sehr wertvoll zeigt.
Ljuljete Mustafi: Teamarbeit ist eine wichtige Voraussetzung für ein gutes Arbeitsklima. Nur durch Teamarbeit kann die Qualität gehalten beziehungsweise gehoben werden. Das gegenseitige Vertrauen kann so leichter aufgebaut werden.
Wie haben Sie sich von der anstrengenden Arbeit erholt?
Maja Zrotz: Nur schon die Tatsache in einem Teilzeitpensum auf der IPS tätig zu sein, verschafft mir Atempausen und eine gesunde Distanz.
Nicole Wyss: Ich konnte mich dank der sehr guten Unterstützung meiner Familie von der anstrengenden Arbeit erholen. Auch die täglichen Spaziergänge oder das Joggen im Wald hatten einen positiven Einfluss auf meine Regeneration. Zudem waren die TCM-Behandlungen bei Nicole Grau, die das Spital den Mitarbeitenden anbietet, sehr unterstützend.
Tina Balaban: Ich arbeite gerne im Spital und brauche daher keine grosse Erholung – ich bin dankbar dafür, dass wir gesund sind und zur Arbeit kommen können. Zudem macht es mich glücklich und zufrieden, wenn wir im Team gut zusammenarbeiten und wenn ich sehe, dass sich Patienten erholen.
Ljuljete Mustafi: Mir hat das gewohnte Familienleben sehr geholfen. Wir haben im Team viel über das Erlebte gesprochen.
Karsten Meier: Schlafen, fernsehen.
Was hat Ihnen trotz allem im Jahr 2020 Freude bereitet?
Ljuljete Mustafi: Trotz langer Tätigkeit in der Intensivmedizin und der Erfahrung, die ich mitbringe, konnte ich viel Neues lernen. Mit jeder weiteren COVID-Patientin oder jedem COVID-Patienten konnten wir die Behandlungsstrategie festigen.
Nicole Wyss: Ich durfte im Juli 2020 meine neue Stelle in Muri auf der Intensivstation antreten. Dies bereitet mir grosse Freude.
Tina Balaban: Ich bin während der ersten Welle als unterstützende Pflegeperson auf die Intensivstation gekommen und habe da die Möglichkeit erhalten, die ÜWP (Überwachungspflege) zu machen. Dies war zwar eine grosse Herausforderung für mich, doch konnte ich dieselbe erfolgreich abschliessen, was mir grosse Freude bereitet hat.
Maja Zrotz: Dass ich Mami von einem gesunden Jungen geworden bin.
Karsten Meier: Nichts. Einfach ein Jahr zum Vergessen. Wenn die Kameras aus sind und der Applaus vorbei ist, sind auch wir wieder vergessen – wie es immer war.