Impfen mit psychologischem Geschick
Zu den grössten Herausforderungen im Betrieb des Impfzentrums am Spital Muri gehört die Rekrutierung von freiwilligem Fachpersonal. Zu den Freiwilligen gehört die pensionierte Ruth Engeler. Bis 2017 hatte sie während nahezu zwanzig Jahren den Pflegedienst des Spitals Muri geleitet.
Die Anfrage vor gut einem Jahr kam von Andrea Suter, der Leiterin Notfallstation und Notfallpraxis des Spitals Muri. Nach der Pensionierung kreuzten sich die Wege der beiden Pflegefachfrauen über den Freiwilligendienst IDEM des Spitals wieder. Für Ruth Engeler gab es da wenig zu überlegen. Zwei Tage nach der Eröffnung des Impfzentrums Anfang Februar 2021 nahm sie ihre Arbeit auf.
Von 1998 bis 2017 war Ruth Engeler Leiterin des Pflegedienstes gewesen. Sie hatte sich ein Jahr vorzeitig pensionieren lassen, nur zwei Monate fehlten bis zum 20-Jahr-Arbeitsjubiläum. «Der Weg zurück ans Spital Muri war für mich fast ein Nachhausekommen», blickt sie ins vergangene Jahr zurück. Auch wenn sie nicht mehr in Muri wohne, sei das Spital für sie doch noch immer ein Stück Heimat.
Mehrere Impfstoffe zur Verfügung
Die Aufgabe von Ruth Engeler und ihren medizinisch ausgebildeten Arbeitskolleginnen ist das Bereitstellen der Impfdosen (Aufziehen der Spritzen) und die Verimpfung der Vakzine. Verimpft werden in Muri die Impfstoffe von Moderna, Pfizer/BioNTech und Janssen.
Die Nadel anzusetzen erfordert ab und zu auch psychologisches Geschick. Ruth Engeler hat schon wiederholt erlebt, dass vor allem bei verunsicherten Personen physisches oder psychisches Unwohlsein auftreten kann. Nur ganz vereinzelt hätten sich Personen noch kurzfristig in der Impfkoje entschieden, doch noch auf die Impfung zu verzichten.
Natürlich geschieht auch das Umgekehrte, dass Mitarbeitende der Administration eine medizinische Fachperson beiziehen, um bei einer Person zu klären, ob aufgrund der vorliegenden Informationen geimpft werden darf. Dann und wann müssen auch spezifische medizinische Fragen beantwortet werden, allenfalls unter Beizug des verantwortlichen medizinischen Tagesarztes. Zuständig ist das medizinische Fachpersonal auch dann, wenn sich bei Geimpften im Warteraum unerwartete medizinische Reaktionen zeigen sollten.
Entspannte Stimmung
«Ich habe im Februar letzten Jahres meine Arbeit aufgenommen und erlebe die Abläufe hier seit Beginn als sehr effizient», erinnert sich Ruth Engeler. In der Startphase wurden täglich sechzig bis siebzig Dosen verimpft, im Mai und Juni stieg die Zahl auf rund 1800. «Natürlich waren Staus unter diesen Rahmenbedingungen nicht zu vermeiden, aber ich habe die Stimmung jederzeit als entspannt erlebt.» Für sie sei das ein deutliches Zeichen gewesen, dass die Abläufe stimmen.
Mit den Monaten der Zusammenarbeit zwischen der Administration und den impfenden Fachpersonen sei der Zusammenhalt und das gegenseitige Verständnis gewachsen. Die örtlichen Gegebenheiten im Haus 6 begünstigen eine entspannte und effiziente Zusammenarbeit: «Das Impfzentrum konnte dort eingerichtet werden, wo sich vorher die hausärztliche Notfallpraxis befand, damit haben wir ideale räumliche Rahmenbedingungen erhalten.»
Dankbar mit Schokolade
Ruth Engeler schmunzelt, wenn sie daran denkt, wie sich das Verhalten der impfwilligen Personen über die Monate verändert hat. «Unmittelbar nach Eröffnung des Impfzentrums waren die Leute geradezu dankbar, ihre erste Impfung zu bekommen.» Die Verantwortlichen in der Administration hätten da und dort sogar kleine Kämpfe austragen müssen, weil Impfwillige versuchten, mit falschen Vorgaben und Informationen an ihre erste Impfung zu kommen. Bei jenen, die sich impfen lassen konnten, sei die Dankbarkeit sprichwörtlich gewesen: «Wir wurden mit Schokolade und Süssigkeiten geradezu überschwemmt.»
Ab Mitte Mai wuchs dann der Anteil der jüngeren Jahrgänge, die sich möglichst rasch impfen lassen wollten, weil die Ferien nahten. In der Folge sank die tägliche Impfquote kontinuierlich bis in den August. Mit den vom Bundesrat beschlossenen Verschärfungen kippte die Stimmung. Das Benehmen wurde aggressiver. Auch wenn die Impfwilligen bei der Anmeldung angaben, freiwillig zu kommen, wurde offensichtlich, dass sie unter dem durch den Bund erzeugten Druck handelten. Dann folgte die Phase der Boosterimpfung, und mit ihr kehrten die Süssigkeiten und die Schokolade zurück.
Das grosse Rechnen hat begonnen
Ende Dezember 2021 hatte das Impfzentrum die Schwelle von 100 000 verimpften Dosen erreicht, Ende Januar 2022 waren es rund 110 000. Dass die Zahl im laufenden Jahr deutlich abflacht, hat nach Einschätzung von Ruth Engeler zwei hauptsächliche Gründe. Einerseits dürfte die Aussicht, dass zunehmend Lockerungen möglich werden, die Zurückhaltung gegenüber einer nächsten Impfung verstärkt haben. Andererseits habe der Entscheid, die Gültigkeit der Zertifikate von zwölf auf neun Monate zu reduzieren, und die Diskussion nach einer erneuten Impfung bewirkt, dass viele Leute im Hinblick auf Sommerferien im Ausland zu rechnen begonnen haben. «Sie schieben die Boosterimpfung hinaus, mit der Überlegung, dass diese im Sommer noch Gültigkeit hat und sie nicht noch zu einer vierten Impfung gezwungen werden könnten.»
Wer den Betrieb im Haus 6 des Spitals Muri über die vergangenen Monate analysiert, kommt zu einem eindeutigen Schluss: Die pandemische Grosswetterlage und die von Bund und BAG beschlossenen Massnahmen schlagen direkt ins Impfzentrum durch. Doch ist es nicht das Coronavirus allein, das die Stimmungslage der Menschen bestimmt, wenn’s ums Impfen geht: «Die grundsätzliche Angst vor der Nadel ist weit verbreitet», sagt Ruth Engeler.